Anna

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sie war immer da. In meiner Erinnerung, war sie immer schon da, wie sie es später auch zu tun pflegte. Sie, eine Konstante.

Oft sagte sie, die 13, die 13 hat mir nur Unglück gebracht. Ende Juli 1913 wurde sie geboren, ein denkbar schlechtes Datum. Zwei Weltkriege später, ein abwesender Mann und dann Witwe mit zwei Kindern, die Vertreibung aus der Heimat, nichts so schien es, konnte ihren Willen brechen, diesen unermüdlichen Willen und die Kraft, das Unerlässliche, das Unbequeme, das, was getan werden muss, zu tun. Ich habe sie nie klagen gehört.

Und wie liebte ich ihre Stimme, wenn sie vor meinem geistigen Auge wundersame Landschaften und Figuren entstehen ließ. Fantastische Märchen aus einer anderen Epoche.

Dass sie ihre Heimat verlassen musste, hat ihr das Herz gebrochen, aber nicht diesen, ihren unbezähmbaren Willen. Eine Löwin. Ich höre noch immer ihre Stimme, wenn sie von diesem Land erzählt, ihrer Stadt, ihrem geliebten Prag und dem heiligen Berg, die vielen verschlungenen, kleinen Gassen, die weiten Felder, ein Meer an Getreide, Klatschmohn und Kornblumen, und die tiefe Abgeschiedenheit der Wälder. Viele, sehr viele Jahre später durchstreife ich selbst diese Gassen, auf der Suche nach Antworten auf Fragen, die niemand stellte.

Hast du ihn geliebt oder bist du nur der Kinder wegen geblieben?

Bist du glücklich?

Wie würde dein Leben aussehen, könntest noch einmal wählen?

Heiraten? Nein, heiraten würde sie nicht wieder.

Unvorstellbar, dass auch sie einmal jung war, naiv, voller Träume, nächtelang wach lag, den Kopf voll phantastischer Ideen, wegen eines Jungen dem Leben abschwor und sich die Augen ausweinte. Unvorstellbar, dass sie nicht immer schon so weise, so fest im Leben verankert gewesen sein soll. Dass dieser Körper nicht schon immer diese Gestalt gehabt haben soll. Und doch habe ich Bilder gesehen, eine Schönheit, wenngleich etwas ernst und augenscheinlich viel zu jung, für das, was das Leben von ihr forderte.

Wenn wir als Kinder weinend nach einem Streit oder mit aufgeschlagenem Knien zu ihr liefen, dann war das nicht die schlanke, anmutige, wenn auch etwas kühl wirkende Blondine, sondern eine resolute Stimme, die für Gerechtigkeit sorgte, ein warmer und wunderbar weicher Körper, die Berührung ihrer Hände, die Handrücken rau und von Altersflecken übersät. Doch wenn diese Hände mit den von vielen Arbeiten schwieligen Fingern einen berührten, war es unmöglich, nicht die selbe Zuversicht zu spüren.

Sie hat mich nur einmal zum Weinen gebracht, in all den Jahren. Ich hielt ihre Hand, hörte ihren rasselnden Atem, der immer schwächer wurde und die Pausen zwischen den einzelnen Zügen immer länger. Das menschliche Herz ist ein so fragiles Organ, es bricht, sagt man, wenn uns jemand seine Liebe versagt, es rast, wenn der Eine/die Eine uns ein Lächeln schenkt, es klopft voll freudiger Erwartung … Sie hat mir das Herz gebrochen, als ihr eigenes zu schlagen aufhörte, eines Nachts Ende Februar 2013 – die verdammte 13 schon wieder! Der Tod hatte nichts Erhebendes an sich, in einem Moment war sie noch da, im anderen war sie fort und ich spürte, wie etwas in mir zerbrach.

Manches Mal stellte ich mir unsere Familie als einen Körper vor, viele gegensätzliche Teile, viele gegenläufige Wünsche und Impulse, aber sie war das Herz, sie war diejenige, die alles verband.

Sie war immer da. In meiner Erinnerung war sie immer schon da. Ein Leben vor ihr war nicht existent, ein Danach schlichtweg unvorstellbar. Ein Körper lebt nicht ohne Herz.

Als sie ging, wähnte ich mich vor einem tiefen Abgrund und ich fiel.

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