The stories we told

some have a history

others have to invent stories

Die gebückte Gestalt, die sich langsam den Hang hinauf quälte, gab einen mitleiderregenden Anblick ab. Staubig, das lange Haar hing ihr in fettigen Strähnen ins Gesicht und unter all dem Schmutz, war die ursprüngliche Farbe ihrer Kleidung nicht mehr auszumachen.

Doña Marisela griff sich bei deren Anblick ans Herz und brach fast auf der Türschwelle zusammen, als sie die sich nähernde Gestalt schließlich erkannte.

Mayra.

Missy, die mittlerweile auf beiden Augen erblindete Cockerhündin stieß beim Klang der vertrauten Stimme ein schrilles Jaulen aus.

Sie war nicht alleine gekommen, unter ihren Lumpen wölbte sich deutlich sichtbar ihre Körpermitte. Sie verriet nichts über ihren Aufenthalt, sie war zurückgekehrt, aber ihr Blick wirkte abwesend, wie in sich gekehrt. Sie wich jeglichem Gesprächsversuch aus und gab nur widerwillig, knappe und zerstreute Antworten und schien ansonsten seltsam unbeteiligt was ihre Schwangerschaft anging.

Knapp einen Monat nach ihrer Rückkehr setzten die Wehen unvermittelt heftig ein und nach einem 12-stündigen Kampf gebar ihr schweißgetränkter, völlig erschöpfter Körper ein blutverschmiertes zerknittertes Etwas. Nachdem man es unter aller gebotener Vorsicht gesäubert und in frische Leinen gewickelt hatte, überreichte man es seiner Mutter.

Mayra vergrub ihr Gesicht in den winzigen Nacken ihrer Tochter, als versuchte sie, sich deren Geruch einzuprägen, dann drehte sie sich abrupt zur Seite, ohne ihr Neugeborenes noch eines Blickes zu würdigen, schloss die Augen und schlief ein.

Nur wenige Wochen darauf nahm sie sich mit einer wohl platzierten Kugel das Leben. Ob sie von Alejandros Rückkehr gewusst hatte, ob er ihr mittels eines Briefes seine Absichten mitgeteilt hatte oder sie lediglich eine bange Ahnung hatte, wusste im Nachhinein niemand mit Sicherheit zu sagen. Man vermutete lediglich, dass in den wenigen Wochen, die ihr blieben bereits der Plan reifte, Alejandro, das war anzunehmen, – käme er zurück – würde nicht alleine kommen.

Im Juni waren die Nächte kalt und der Himmel sternenklar. Die Kälte kroch selbst durch die dicksten Decken, sodass sich im Schlaf kleine Atemwölkchen bildeten.

In einer dieser Nächte erschoss Mayra ihren Liebsten und danach sich selbst. Mit derselben Waffe, mit der sie ihre Eltern und die arme, bereits blinde Missy erschossen hatte.

Am Morgen fand man die beiden und daneben das Kind, das in seiner Wiege lag und schrie, das kleine Gesicht und die Fäustchen schon ganz blau vor Kälte.

„Und das Kind“, frage ich. „Was ist mit dem Kind geschehen?“

Mari blickt mich lange an. Das Feuer ist mittlerweile gänzlich herunter gebrannt, nur noch ein sanftes Glühen erhellt das Zimmer. In der Stille, die sich zwischen uns ausbreitet, höre ich meinen eigenen Herzschlag schnell, viel zu schnell das Blut durch meine Adern pumpen.

Mit dem letzten Aufglühen der Asche sehe ich das verräterische Glitzern in Maris Augen und endlich beginne ich zu begreifen.

.

.

.

Erst zwei Jahre später habe ich den Mut aufgebracht, jenen Ort aufzusuchen.

Der Friedhof in (*) ist ein ruhiger, geradezu friedlicher Ort. Das Gras und die Farne reichen einem bis zum Knie. Es gibt keine Wege, nur ausgetretene Pfade im Gras, ein Meer von Wildblumen, Bäumen und grünbewachsenen Hügel und Hängen soweit das Auge reicht. Der Himmel ist von einem geradezu irritierend sattem Blau und die klare Luft verströmt ein Aroma aus Eukalyptus und Harzen von Nadelbäumen. Ein surrealer Ort. Und als ich mich hier wiederfinde, das erste Mal in meinem Leben, bleibe ich einfach stehen vor der blau angestrichenem Steinplatte. An einigen Stellen blättert die Farbe bereits ab. Trocken und rau fühlt es sich an, wenn ich mit dem Finger darüber streiche. Es gibt drei Kreuze, windschief und verwittert lehnen sie davor und alle drei tragen den selben Namen. Ein bekannter Name einer unbekannten Person. So ruhig, so friedlich und so unwirklich, dieser Ort, dieser Augenblick. Plötzlich habe ich Lust, mich in das kniehohe Gras zu werfen, meine Hände in den weichen, erdigen Untergrund zu graben und mit offenen oder halb geschlossenen Augen nichts weiter zu sehen als dieses all zu intensive, betörende Blau über mir. Ich rieche den würzigen Duft des Eukalyptus`, meines Eukalyptus`, höre vereinzeltes Vogelgezwitscher und ich denke … eines Tages, eines fernen Tages könnte ich auch hier liegen, im Zentrum, zwischen meinem Vater und meiner Mutter, ich – das Kind, das zurückgekehrt ist.

The stories we told, memories we created, a home built up from words, a refuge for ourselves

Ich habe meine biologischen Eltern nie kennengelernt. Was das mit einem macht? Darauf weiß ich nichts zu entgegnen, da mir Vergleichswerte fehlen. Tief in mir weiß ich es natürlich, aber das ist ein dunkler Ort, den ich nicht allzu oft besuche. Wenn man mich fragt, wem ich ähnlich sehe, von wem ich das fragwürdige „Talent“ habe, unangebrachte Dinge zu sagen, wenn ich nervös bin und meine Abneigung gegen Anís, zucke ich nur die Achseln und wechsle das Thema.

Je älter ich werde, desto mehr bin ich es leid, in betroffene Gesichter zu schauen, die Münder bilden ein perfektes sprachloses O und aus den Augen trieft das Mitleid. Mich ermüden die immer wieder kehrenden Erklärungen, die mit einer geradezu überheblichen Selbstverständlichkeit eingefordert werden. Das Bloßlegen meiner Seele, so ganz nebenbei im Smalltalk vertieft mit der Partybekanntschaft. Ohne einen Fetzen am Leib, könnte ich nicht nackter sein.

Jemand, für den ich viel übrig hatte, kam auf den geistreichen Kommentar: das erklärt immerhin deine Verkorkstheit.

Alles schon gesehen, alles schon erlebt.

Die Eintönigkeit menschlichen Reaktionsvermögen lässt mich gähnen und dabei bin ich im puncto „richtige“ Verhaltensweise völlig überfragt.

Was ist schon angemessen, wenn nicht eine höchst persönliche Variable. Ich kann keine Tipps geben.

Vielleicht nur diesen, zugegeben recht simplen Hinweis.

Frag nicht, wenn du mit der Antwort nicht klar kommst.

In der Zwischenzeit erfinde ich aus Mangel an Erinnerungen weiterhin Geschichten, ich färbe sie bunt, mit den Farben meiner Vorstellungskraft – knüpfe Sätze aneinander bis sie ein festes Netz bilden – halte mich an ihnen fest, wenn es nötig ist und in den kalten Nächten spenden sie Trost wie eine wärmende Decke.

Mayras Geschichte

… sie kamen in der Nacht, als alle schliefen. Die Kälte war durch die groben Decken gedrungen und im Schlaf bildete der Atem kleine Wölkchen.

… und dann? Was ist dann passiert, begehre ich mit vor Aufregung heißerer Stimme zu wissen.

Mari stochert mit einem Ast in der noch heißen Glut, ein kleiner Funkenregen wirbelt in die Höhe, der Widerschein lässt ihre Augen glühen. Plötzlich fröstelt es mich trotz der warmen Decke, die um meine Schultern liegt.

Sie kamen nachts. Immer kamen sie nachts.

Maris Worte dringen nur zögernd an mein Ohr und ihre Stimme klingt als trüge sie die Last unendlich vieler Jahre. Sie wirkt müde. Ihre sonst so kraftvolle, klare Stimme klingt als gehöre sie einer alten Frau. Dabei ist Mari jünger als ich.

An dem Ort, an dem ich aufwuchs, lebte vor vielen Jahren ein Mädchen mit seiner Familie. Die Eltern waren reich oder was man damals unter reich verstand . Der Vater Mayras, so hieß das Mädchen, war Großgrundbesitzer und Eigentümer einer Plantage. Die Herrin des Hauses, Doña Marisela verbrachte die langen Sonnentage auf der Veranda ihres Herrenhauses, auf den Knien ein Buch und zu ihren Füßen ein rotbraunes Bündel, einen kleinen Cockerspaniel, Missy genannt, das Verlobungsgeschenk ihres Ehemannes, Don Alfredo.

Schon im darauffolgenden Sommer gesellte sich ein weiteres Mitglied hinzu, klein, rosig, mit zerknitterten Gesichtchen und zahnlosem Mund schrie es ohne Unterlass, bis Missy sich auf ihre Hinterpfoten stellte, das schreiende Ding in den Armen ihrer Herrin kritisch beäugte und schließlich mit ihrer rosafarbenen Zunge über das vom Schreien rote Köpfchen des Säuglings fuhr, bis dieser sich endlich beruhigte und schließlich in eine Art vergnügtes Glucksen ausbrach.

Und wieder ein paar Sommer darauf, jagte ein kleines Mädchen mit fliegenden Röcken und vom Rennen aufgelöster Frisur, so dass die langen Locken wild umhersprangen, einem rotbraunen Blitz hinterher, über Felder und Wiesen und sehr zum Ärger seiner Mutter, barfüßig. Mayra, war schon als Kind ein richtiger Wildfang. Doch man konnte ihr nie lange zürnen, Ein Blick aus diesen großen Kinderaugen und dazu dieses reizende Lächeln, das ihr ganzes Gesicht erstrahlen ließ und diese unwiderstehlichen Grübchen auf ihre Wangen zauberte, schon war jeglicher Groll verflogen. Und die Kleine wusste diesen Umstand schamlos auszunutzen. Sie war nicht wirklich ungezogen oder frech, nur eben wild und lebensfroh und von einem übersprudelnden Temperament.

Maris Stimme verstummt, sinnend blickt sie ins Feuer. Ein paar Minuten verharren wir so im beiderseitigen Schweigen. Dann halte ich es nicht mehr länger aus.

„Und dann? Was geschah dann“, hake ich ungeduldig nach.

Maris Blick ist weiterhin auf die Flammen gerichtet. Sie rührt sich nicht, fast denke ich, sie habe mich nicht gehört.Ich strecke zur Sicherheit eine Hand aus, möchte sie an der Schulter berühren. Als ich plötzlich ihre leise, fast wispernde Stimme vernehme, halte ich mitten in der Bewegung inne.

„Dann“, sagt Mari und wirft mir einen langen, unergründlichen Blick zu, „dann kamen dunkle Zeiten.“

… sie kamen in der Nacht, als alle schliefen. Die Kälte war durch die groben Decken gedrungen und im Schlaf bildete der Atem kleine Wölkchen.

Don Alfredo hatte nichts dagegen einzuwenden, als sein Vorabeiter eines Tages seinen Sohn zu ihm schickte, um diesen um eine Anstellung zu ersuchen. Alejandro war gerade mal 9 Jahre alt und sein magerer, ja geradezu schmächtiger Körperbau sah nicht gerade vielversprechend aus, aber aus seiner Haltung sprach ein gewisser Ernst und eine Würde, die weit über sein Alter hinaus gingen. Don Alfredo gefiel der Junge, trotz seiner wild abstehenden Haare und des verräterischen Glitzerns in dessen Augen, der auf einen gewissen Starrsinn und einen angeboren Hang zur Rebellion schließen ließ.

Die Jahre verstrichen wie endlose Sommertage. Das Mädchen trug die Haare jetzt zu einem strengen Knoten gebunden und von unzähligen silbernen Nadeln gesichert in ihrem schlanken Nacken, ihre Füße steckten trotz der Wärme in eleganten Lederstiefeln, deren Absätze über ihre zierliche Größe hinweg täuschen sollten. Sie sehnte sich nach der Unbeschwertheit und Freiheit ihrer Kindertage. Kein um die Wette laufen, den Wind im offenen Haar spüren und das Kitzeln der Grashalme unter ihren bloßen Füßen. Diese Tage gehörten nun endgültig der Vergangenheit an. Stattdessen verbrachte sie jetzt die Nachmittage unter dem strengen Blick ihrer Mutter, die Augen sittsam niedergeschlagen, auf dem Schoß eine dieser nicht enden wollenden, ihr so verhassten Stickarbeiten. Missy seufzte wie zur Bestätigung trübselig auf und rollte sich brav zu Füßen ihrer Herrin zusammen.

Doch manchmal erhaschte sie von der Veranda aus einen verstohlene Blicke auf einen lang aufgeschossenen Jungen, dessen dunkle Augen unter einem Schopf wilder Locken nichts von seinem Feuer eingebüßt hatten. Gern hätte sie das Wort an ihn gerichtet, aber das gehörte sich nicht und er, so schien es, war sich ihrer Existenz nicht einmal bewusst.

Er war ein guter Junge, wie Don Alfredo ihn bei sich zu nennen pflegte. Nie hätte er für möglich gehalten, dass er sich denen anschließen würde, sicher, er hatte keinen Hehl aus seinen Sympathien für deren Ideologien gemacht. Doch hatte ein jeder, einschließlich sein eigener Vater angenommen, dass es sich hierbei lediglich um das Resultat eines allzu jungen und noch leicht zu beeindruckenden Verstandes handelte, deren Eigentümer einen Gefallen daran fand, gegen die ältere Generation aufzubegehren. Wer hatte jemals angenommen, dass seinen hitzig geäußerten Worten bald Taten folgen sollten?

Und dann war er fort, eines Nachts verschwand er mit nur wenig mehr als den Kleidern, die er am Körper trug. Niemand verlor ein Wort darüber. Don Alfredo, der den Jungen wie einen Sohn lieb gewonnen hatte, konnte diesen Verrat nicht verschmerzen und verbat unter Androhung schlimmster Strafen auch nur seinen Namen zu erwähnen.

Das Leben nahm seinen geregelten Lauf und unter allseitigem Bemühen kehrte man fast zur alten Normalität zurück. Wie trügerisch jedoch dieser Schein war, zeigte sich als Mayra nicht einmal 4 Monate nach Alejandros Verschwinden davonlief.

Fortsetzung folgt

Lost & Found

Ich verliebe mich jeden Tag aufs Neue. Unwiderruflich. Untröstlich.

INDIEN

Das erste, was ihr auffällt ist der Geruch.

Als sie durch die schwere Glastür aus dem geschützten Innern, dem Bauch des Flughafens zusammen mit unzähligen anderen Gestrandeten ins Freie gespült wird, ist er da.

Satt und schwer, die Luft ist angereichert mit exquisiten Aromen, hüllt sie ein, durchdringt sie vollkommen, berauscht ihre Sinnesorgane und jeder Luftstrom, der durch ihre Lungen gleitet ist weniger atmen, als schmecken.

Und sie schmeckt Kardamon, Zimt und Koriander und …

Federn säumen meinen Weg. Wohin ich auch gehe, immer liegt dort schon eine Feder, als würde sie auf mich warten. Klein und weiß, fast übersieht man sie und manchmal groß mit spitz auslaufendem Ende.

Man sagt, wenn der Kiel einer Feder auf dich zeigt, wirst du eine Reise antreten. Zeigt ihre Fahne auf dich, dann kommt jemand zu dir.

Ich würde so gerne daran glauben.

Der Himmel hängt voller Wolken, aber es regnet nicht, noch nicht. Eine Spannung liegt in der Luft, seltsam schwer, man möchte innehalten und lauschen.

Menschen hasten an mir vorüber, mit eingezogenen Schultern und starrem, doch abwesendem, in die Ferne gerichteten Blick.

Und ich, eine von vielen, ein Punkt unter tausenden Punkten aus der Vogelperspektive.

Ich verliebe mich jeden Tag aufs Neue, unwiderruflich, untröstlich.

Ein zufälliger Blick aus schrägen Augen, braun, blau, grün oder grau, ein sanftes Lächeln, das sachte Streifen eines Hemdaufschlages, Haut an Haut im Vorübergehen und es ist um mich geschehen.

Mein Herz gerät aus dem Takt, mein Verstand und meine Füße tun es ihm nach. Taumelnd drehe ich mich um, drehe mich nach diesem Wunderwesen um, breite Schultern, schmal, groß, von kleinem Wuchs, das Haar, lang und glatt und kurz und ziemlich zerzaust und immer umgibt sie ein Strahlen wie von unzähligen, winzigen Glühbirnchen.

Sie leuchten von innen heraus und es zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Sie leuchten und ich stehe hier, regungslos, nutzlos in mir selbst gefangen, während sie weitergehen, langsam um eine Ecke biegen, aus meinem Sichtfeld treten und den letzten Schimmer ihres Feuers mit sich nehmen.

Das ist zu viel.

Warum kann ich nicht mutiger sein?

So viele Leben, so viele Lieben und Geschichten, die unerzählt bleiben.

Heartbroken.

Ich weiß, es ist mein Vergehen. Ich bin allzu oft zu irdisch, bodenverhaftet, nüchtern und streng mit mir selbst, von irrationalen Ängsten und kleinlichen Komplexen geplagt, bis ich mir selbst nicht mehr glaube und die Magie des Augenblicks als das lächerliche Resultat eines allzu kapriziösen Verstandes abtue.

Ich stehe hier oben, den Kopf in die Hände und die Ellbogen auf der schlecht zementierten Brüstung gestützt. Aus der Jukebox klingt 500 miles, die Inside Llewyn Davis Version, und schaue hinunter auf die vorüber strömenden Massen. Wenn man lange genug hinstarrt, verschwimmen die Konturen zu einem einem einzigen unscharfen Schemen.

Mein Kaffee ist längst erkaltet, der Schaum in der trübbraunen Flüssigkeit ertrunken. Am Tassenrand balanciert eine Fliege. Ich lasse sie gewähren, er hatte mir ohnehin nicht geschmeckt, zu dünn, zu …

„Du bist kalt“, hatte Arjun gesagt. Und ich hätte gerne erwidert, dass dies nicht stimmte. Aber das hätte unweigerlich eine Diskussion nach sich gezogen, in deren Verlauf viele hitzige Worte gefallen wären, bis wir schließlich beide wütend, verletzt und zu erschöpft einander mit unnachgiebigen Schweigen gestraft hätten. Also hatte ich hatte lediglich den letzten Schritt vorweg genommen und … gar nichts gesagt.

Dabei sind wir nicht einmal ein Paar, keine Freunde, flüchtige Bekannte, in dieser Stadt Gestrandete, Suchende auf der Durchreise.

Baby, we´re lost.

Der Himmel verdunkelt sich und der kühle Wind beschert mir eine Gänsehaut. Fröstelnd ziehe ich die Arme enger an den Körper. Die kleinen schwarzen Punkte unter mir beginnen auseinanderzustreben, Straßenverkäufer sammeln ihre Waren ein, Läden werden verriegelt.

Schon spüre ich die ersten Tropfen, kalt und schwer auf meiner Haut zerplatzen. Und ich weiß nicht, welche überspannte Laune mich dazu bewegt weiterhin hier draußen zu stehen und in den dunstigen Schleier, der sich vor meinen Augen gebildet hat zu starren, anstatt die Flucht ins Innere zu ergreifen.

„Du bist einfach zu empfindlich“, hatte Arjun gesagt.

„Was denn nun, kalt oder empfindlich? Entscheide dich“, hatte ich gereizt erwidert und mich von ihm abgewandt.

Und es stimmt, ich bin empfindsam, sehr und nur allzu verwundbar. Diese Welt, sage ich mir, braucht keine Butterblumen, vermutlich auch keine Disteln, aber in einer unwirtlichen Umgebung rechne ich Letzteren deutlich höhere Überlebenschancen ein.

Regen tropft tränenreich von meinen Wimpern, ich weine nicht oder vielleicht doch. Ich weiß es nicht. Verdammt törichtes weiches Herz.

Aus den Augenwinkeln nehme ich eine Bewegung wahr. Ich bin nicht allein, er steht keine 10 Schritte entfernt und beobachtet mich ohne zu blinzeln.

Ich schaue ihn an, mein Blick fängt seinen auf, goldgelb mit grünen Sprenkeln.

Ich verliebe mich jeden Tag aufs Neue, unwiderruflich, untröstlich …

Ohne mein Zutun drängt sich ein Lächeln auf meine Lippen. Er kommt zaghaft näher. Sein rotweißes Fell klebt an dem kleinen, viel zu mageren Körper. Unschlüssig bleibt er in einiger Entfernung stehen, als versuche er meine Gesinnung abzuschätzen.

Vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken, gehe ich in die Hocke und strecke ihm eine Hand entgegen.

Ich werde mir selbst Flügel verleihen, denke ich.

Und Fliegen.

Der kleine Kerl kommt zaghaft näher bis er vor meinen Füßen zum Stehen kommt und stößt unvermittelt ein klägliches Miauen aus. Sein weit aufgerissener Rachen gibt den Blick auf eine Reihe noch nicht ganz ausgebildeter nadelscharfer Zähnchen frei.

Lost&Found

Vorsichtig nehme ich das durchweichte Bündel auf und schiebe es unter den Saum meiner Bluse. Ein leichtes Zittern durchfährt den winzigen Körper, eine kleine Nase schiebt sich suchend in die Kuhle meines Bauchnabels und dann beginnt er wohlig zu schnurren. Sanft lege ich eine Hand von außen auf die Wölbung. Das zarte Vibrieren erfüllt meinen ganzen Körper. Dann drehe ich mich um und gehe.

Der Wind hat zugenommen, aber in diesem Moment spüre ich eine große Wärme.

drei klopfende Herzen

Sie saß auf der Liege, ihre Beine, welche den Boden nicht erreichten, hatte sie übereinander
geschlagen. Ihre Füße wippten leise im Takt. Nebenan spielte jemand Klavier.
Die einzelnen Sätze klangen mal kunstvoll und von leichter Hand gespielt, dann wieder holprig und
unbeholfen. Dazwischen blieb stets eine kurze Pause, ein leises Innehalten, gespanntes Lauschen, ein Zeichen? Ein Zeichen für ihn? Komm schon, mach, mach endlich Schluss! Komm, bitte, kommst du?
War es seine Freundin, Frau, Geliebte, die ihn von nebenan zu sich rief?
War dies ihr geheimes Zeichen? Sehnte sie seine Gegenwart so sehr herbei?
Das Spiel wurde eindringlicher und lauter. Es klang weniger nach eine Frage, als nach einer
Aufforderung.
Nur einmal jemanden so zu vermissen, dachte sie und war sich der Banalität dieses Gedankens voll
bewusst.
Schon beneidete sie die Andere und gab sich dem leisen Stich der Eifersucht mit schmerzvoller Lust
hin.
War sie blond? Bestimmt war sie blond und hochgewachsen und schlank. Eine kühle, klassische
Schönheit, ganz Frau, ganz Mensch, ganz Jäger und Beute vom perfekt frisierten Scheitel bis hin zu
den stets frisch lackierten Fußnägeln im Dita von Teese Rot.
Dieses dunkle Rot harmonierte ganz ausgezeichnet mit dem nicht besonders vollem, dafür hübsch
geschwungenem, kleinem Mund.
Am beeindruckendsten waren jedoch ihre Augen. Dieses Blau, das je nach Gefühlslage und Stimmung mal grau, dann wieder aquamarinblau schimmerte. Und manchmal, wenn sie schrie, die Fäuste ballte und ihre Augen sich zu wütenden Schlitzen verengten, schossen kleine, purpurne Blitze daraus hervor und trafen ihn mitten ins Herz. Dann kapitulierte er innerlich, jedes Mal, doch anmerken ließ er es sich nie.
Sie hieß Thea, eigentlich Thérèse, was sie beide viel schöner fanden, in den Momenten, wenn sie
ineinander verschlungen im Halbdunkel lagen, störte dieses distanzierte Thérèse jedoch jegliche
Intimität, so kam es zu einem geflüsterten Thea, das schon beim stumm gehauchten Konsonanten im
Keim erstickt wurde, wenn sich ihre Lippen suchten und e und a einen süßen Tod starben.
Auf seinem Schreibtisch türmten sich die Papierberge in akrobatische Höhen und trotzten jedem Gesetz der Schwerkraft. Der PC hielt wie ein strenger General fest und unbeweglich seine Position bei, daneben neigte eine Zimmerpflanze ihre nicht mehr ganz grünen Äste ergeben zu Boden.
Inmitten des Chaos plante eine tapfere Schar kleiner Figuren die Flucht von einer Ecke zum
gegenüberliegendem Ende des Schreibtisches. Angeführt wurde sie von einem nicht mehr ganz
taufrischem Pluto, der jedes Mal vor Begeisterung zu Quietschen begann, wenn man ihn aufhob und
drückte.
Snoopy im Arztkittel samt Stethoskop war sich der Ernst der Lage dagegen vollauf bewusst und trug
eine routinierte, leicht überhebliche Miene zur Schau. Es war nicht sein erster Ausbruch.
Einmal wäre ihm die Flucht fast gelungen. Er hatte lediglich die Aufmerksamkeit eines Kleinkindes auf sich ziehen müssen. Kaum hatte es ihn entdeckt, griff es schon mit seinen klebrigen, kleinen Fingern nach ihm. Doch statt in den Untiefen irgendeiner Hosentasche zu landen wie er es geplant hatte, steuerte die Faust, die ihn erbarmungslos unklammert hielt direkt auf den weit geöffneten, feucht glänzenden Abgrund zu.
Dahin waren seine Pläne, seine Träume von fremden Ländern, großen Abenteuern, schönen Mädchen.
Keine Lieder würde man ihm zu Ehren singen. Sein jugendlicher Leichtsinn, sein Heldenmut, sein
übergroßer Lebenshunger, all dies fand ein jähes Ende.
Er würde einen einsamen, sinnlosen Tod sterben, auf der Flucht vom Feind entdeckt, gemordet! Das
Ende in einer Futterluke.
Er schaute dem Unausweichlichen ins Angesicht, salutierte wie es sich für einen kleinen, tapferen
Soldaten gehörte und ergab sich in sein Schicksal.
Virenverseuchter Kinderatem umspülte seine feine Nase, schon glaubte er, scharfe Zähne sich in
seinen Körper graben zu fühlen, als der donnernde Befehl des in Unruhe geratenen Fleischberges neben seinem Beinahe-Mörder die Faust in der Luft erstarren ließ.
„TU DAS WIEDER HINSTELLEN, JEREMY-DAMON, SONST WIRD DIE MAMA SEHR BÖSE!“
Ein feiner Speichelregen durchnässte den kleinen Helden, doch das Wunder geschah.
Der klebrige Griff lockerte sich augenblicklich und Snoopy glitt aus der feucht-heißen Beengung und
landete sicher auf dem Tisch, wo er sich sogleich duckte und aus der Gefahrenzone begab, um in den
Untiefen des Dschungels (Zimmerpflanze) unterzutauchen.

Das Klavierspiel brach abrupt ab.
Ihre Lippen verzogen sich zu einem kleinem Lächeln, das den Triumph nur mühsam zurückhielt.

Du wirst dich noch etwas gedulden müssen!
Sein T-shirt spannte ein wenig um seinen Oberkörper und ließ den Blick frei auf zwei muskulöse
Oberarme.
Diese Arme waren leicht gebräunt, von einer feinen Spur dunkler Haare überzogen und sahen so
gesund und kräftig, so einladend appetitlich aus, dass sie augenblicklich Lust dazu verspürte, ihre
Zähne darin zu vergraben.
Er blätterte konzentriert in dem Ausweis, den sie ihm mitgebracht hatte und so entging ihm das
belustigte Funkeln in ihren Augen.
Draußen fiel der Schnee in dichten, fedrig-flauschig anmutenden Flocken. Es hatte etwas verstörend
Hypnotisches an sich, in das reine Weiß des fallenden Schnees zu blicken. Schaute man lange genug
hin, verschwamm das Bild vor den Augen, die Flocken verschmolzen zu einer einzigen weißen Fläche und hörten auf zu fallen.
Noch hatten sie beide kein Wort gewechselt, kurz überlegte sie, ob sie einfach aufstehen, ihm den Pass entreißen, ihre Jacke, die Tasche nehmen und gehen sollte. Nicht aus irgendeinem bestimmten Grunde, sondern einfach der Theatralik wegen und viel wichtiger, weil sie es konnte!
Ja, noch nie war sie sich einer Erkenntnis so bewusst gewesen, wie dieser einfachen, kleinen, simplen Wahrheit: ob sie ging oder blieb, es lag in ihrer Macht.
Er hob den Blick und schaute sie über den Rand seiner Brille hinweg an, in seinem linken Ohr blitzte
ein kleiner Ring auf.
In diesem Moment fiel ihre Entscheidung


Nachts sind Städte nichts weiter als ein Sammelort menschlicher Höhlen. Leiber drängen sich dicht an dicht, über-, unter-, neben und ineinander, Tür an Tür hört man sie stöhnen, flüstern, manchmal lachen und weinen. Das Gehörte lässt viel Raum für Spekulation und manchmal hütet man die Geheimnisse des Nachbarn, als wären es die eigenen.

Jemand hatte ihr mal erzählt, dass in Nächten, in denen die Städte völlig ausgestorben schienen, weil
Kälte und Sehnsucht die Menschentiere zueinander in ihre Höhlen trieb, die Puppen in den
Schaufenstern zum Leben erwachten.
Zuerst blinzelten sie mit den Augen, klimperten probeweise mit den Wimpern, prüfend, ob sie das
Flirten immer noch drauf hatten. Dann wurden die Lippen gespitzt, neckisch geschürzt und einander mit blitzenden Zähnen begrüßt.
Wenn sie ihre vom stundenlangen Stillstehen steif gewordenen Gelenke bewegten, ging ein Knacken durch den ganzen Puppenkörper. Vorsichtig stiegen sie von ihrem Podest, übten zaghaft die ersten Schritte bis eine von ihnen der Übermut packte und sie mit einem kraftvollen Schwung die ihr am
nächsten stehende Verwandte an den Händen fasste und in einem ausgelassenen Tanz im Kreis
herumwirbelte.
Soviel Übermut war natürlich ansteckend und in Windeseile verwandelten sich ganze Kaufhäuser in
rauschende Ballsäle.
Später durchstreiften sie die verschiedenen Stockwerke, setzten sich verrückte, alberne und hässliche Hüte auf. Zogen Kleider an, drehten und wendeten sich vor Spiegeln und versuchten sich in draufgängerischen Posen.


Kurz bevor die Sonne über den Horizont wanderte und ihre ersten Strahlen den neuen Morgen
begrüßten, fassten die Puppen sich an den Händen, halfen einander auf die Emporen, rückten schnell verrutschte Kleidungsstücke zurecht, verabredeten sich zum nächsten Fest und erstarrten gleichsam mit den über ihren Gesichtern tanzenden Strahlen wieder zur Leblosigkeit.
Als Kind hatte die Vorstellung von einem geheimem Doppelleben der Puppen sie begeistert und auch
heute überraschte sie sich manchmal dabei, wie sie ruckartig über die Schulter blickte, weil sie glaubte, eine Bewegung in ihrem Rücken gespürt zu haben. Wenn sie dann in das verdächtig ausdruckslose Gesicht der Puppe blickte, konnte sie nicht umhin zu glauben, diese habe ihr gerade verschwörerisch – das bleibt unter uns – zugeblinzelt.
Wer wusste schon, was die Puppen trieben, wenn gerade keiner hinsah?


Wieder saß sie auf der Liege, ihre Füße wippten ohne ein Hindernis ungebremst und frei im Raum.
Diesmal spielte niemand Klavier.
Auf der Fensterbank stand ein plüsch-weißes Schwein und starrte ganz aufmerksamer Wachhund aus dem Fenster, beäugte misstrauisch die vorübergehenden Passanten und grunzte hin und wieder
warnend, wenn ihm jemand verdächtig erschien – was häufig der Fall war, Verdächtige gab es in dieser Gegend viele.
Manchmal konnte es vorkommen, dass das Schwein vor lauter Übermut von der Fensterbank plumpste und in einen wahren Grunzrausch geriet. Dann gab es kein Halten mehr, es rotierte auf seinen Rücken, manchmal auch auf den pummeligen Füßen – je nachdem, mit was es zuerst aufkam – lautstark grunzend und schnaubend um die eigene Achse.
Diese Art von Rausch konnte gut und gerne mehrere Stunden, im schlimmsten Fall sogar Tage
andauern!
Glücklicherweise hegte das Schwein jedoch eine ausgesprochene Schwäche für Eukalyptus Bonbons.
Das war ihm nicht verborgen geblieben und so sorgte er dafür, dass stets eine gut gefüllte Schale mit
eben diesen Bonbons bereit stand, für alle Fälle.
War es mal wieder so weit, griff er beherzt in die Schale, fischte ein oder mehrere Eukalyptus Bonbons heraus, wickelte sie gekonnt aus dem Papier und beförderte sie mit einer routiniert-schwungvollen Bewegung direkt in die weit aufgerissene Schnauze des Schweins. Mittlerweile war ihm diese Bewegung so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er sogar mit geschlossenen Augen sein Ziel nicht verfehlte!
Augenblicklich verstummte das ohrenbetäubende Grunzen und ging in ein genüssliches Schmatzen
über.
Derart beruhigt, brauchte man das Schwein nur noch zurück auf die Fensterbank stellen, wo es sofort seine Tätigkeit als Wachhundschwein wieder aufnahm, als sei überhaupt nichts geschehen. Seine pechschwarz funkelnden Augen starrten konzentriert durch die Scheibe. Hin und wieder grunzte und schmatzte es leise vor sich hin, nur so zum Vergnügen.

Die Nadel bahnte sich mühelos ihren Weg durch das Hindernis, welches keines war, viel zu bereitwillig gewährte es dem Fremdkörper Einlass.
Der Schmerz war nicht der Rede wert, wohl aber das warme Gefühl auf der Haut rund um den Einstich und seine Stimme. Dieser vibrierende Zwischenton, der gleich etwas Leiblichem über sie hinweg rollte und ihre Ohren wie die eines Hundes zucken ließ.
Die Vokale klangen voller, die Konsonanten tanzten im Bass Bariton. Streckte sie die Hände danach
aus, kitzelten die Vibranten lachend und wirbelnd ihre Fingerspitzen, umkreisten sie wie exotische
Vögel, lockten und lösten sich gleich darauf in Luft auf. Erhaschen konnte sie nie einen.

Wenn man sie fragte, warum sie all diese Strapazen – mal abgesehen von den Kosten! – auf sich nahm, antwortete sie nur mit einem leicht hintergründigem Lächeln.
Warum? Darum! Weshalb? Deshalb! Wieso? Dieso, nein das gab es leider nicht. Die Antwort blieb
trotzdem die Gleiche.
Es gab keine Gründe, wenn nicht ihre pure Existenz Grund genug war. Sie konnte keine Gründe
anführen, wenn sie nicht gleichzeitig alle, auch die banalsten gelten ließ.
Sagte man, weil das Klima dort anders ist, weil die Luft schwerer, die Menschen lauter, das Glück
diffiziler und die Liebe konfuser ist, blieb es sich doch vollkommen gleich.
Warum?
Nicht wegen eines Landes, einer Mutter oder Vater wegen, die einem fremd waren, noch irgendwelcher
geborgten Erinnerungen wegen.
Sicher, ein wenig Sehnsucht, ein Hauch Melancholie und ja, auch eine Spur Sentimentalität spielten
ebenfalls eine Rolle.
Doch letztlich waren es die Träume, die einem im Schwebezustand zwischen nicht mehr schlafend und noch nicht ganz wach bannten. So schrecklich real und surrealistisch zugleich den Verstand mit Bildern fütterten und die Glieder bleischwer werden ließ. Das waren Momente, wenn sie mit verkrampfter Körperhaltung erwachte und auf ihren Lippen ein salziger Nachgeschmack blieb.
Warum?
Einzig um ihrer selbst willen. Weil ich bin, sagte sie leichthin. Ich bin. Dem war nichts mehr
hinzuzufügen.

Im Winter war die Entscheidung gefallen. Im Frühling, wenn jedes neue Leben sich regte, sollte die
Reise beginnen.


Vielleicht würde sie ihm schreiben. Nein, ganz bestimmt würde sie ihm schreiben.
Wenn sie dann auf irgendeiner Treppe saß, die Füße ausgestreckt, die Augen geschlossen und das
Gesicht in die warme Mittagssonne hielt, würde sie an ihm denken.
Dann würde sie ihm sagen:
Am meisten werde ich den Sommer vermissen. Das sanfte Brennen der Sonnenstrahlen, das
Nachglühen in der Nacht und das seidige Gefühl von Farbe auf der Haut.
Sie würde es nicht schreiben, aber er würde es trotzdem wissen, sie war glücklich.


Und Snoopy saß neben ihr.
Sie hatte ihn bei ihrem letzten Besuch mitgenommen, weil sie die großen Hundeaugen nicht vergessen konnte. Weil sie hinter all der Arroganz und der zur Schau gestellten Überheblichkeit auch eine Spur Traurigkeit entdeckt hatte, eine Sehnsucht, die sie wiedererkannte.
Sie hatte ihn behutsam in die Hand genommen und ihm ein Versprechen gegeben.
Sie nahm ihm mit auf diese Reise, weil man bei so einem Unternehmen einen guten Freund an seiner Seite brauchte.
Er solle nicht böse auf sie sein.
Sie würde ihm von den Orten schreiben, die sie besucht hatten, den Menschen, denen sie unterwegs
begegnet waren. Sie würde die schönen, die lauten, die leisen und die wahren Momente schildern, sie würde ihm jede Einzelheit erzählen. Dann bräuchte er nur die Augen zu schließen und würde sie sehen.
Ihr Schlusswort war leise und voller Hoffnung:
Wünschen Sie mir Glück ohne Punkt, Ausrufe- oder Fragezeichen.


Wenn sie ihm also einen Brief schrieb, würde sie so beginnen:


Sie saß auf der Liege, ihre Beine, welche den Boden nicht erreichten, hatte sie übereinander
geschlagen. Ihre Füße wippten leise im Takt. Nebenan spielte jemand Klavier

Taming the beast

taming (3)

Er schläft, aber das macht überhaupt nichts. So bleibt es ihr allein vergönnt, ihn zu betrachten, das hypnotisierend gleichmäßige Heben und Senken seiner Brust bei jedem Atemzug, das Flattern seiner Lider – träumt er, was träumt er, träumt er von ihr? – seine Lippen sind leicht geöffnet, flüsterte er etwas? Was?

Sein Kinn und sein Hals und der herausfordernde Schwung seines Nackens, eine Einladung, eine Provokation!

Sie beugt sich über ihn, eine Haarsträhne streift seine Wange, er zuckt, aber sein Schlaf ist tief. Ihre Augen gleiten wie tastende Finger über Schläfe, Jochbein, die Kurve eines Ohrs, verharren kurz an einem bebenden Nasenflügel und gleiten zum Mundwinkel, dem Hüter so vieler Geheimnisse hin. Wird er sie jemals preisgeben?

Wie ein witterndes Tier nähert sie sich, sie atmet ihn, berauscht sich, an ihm und sich zugleich und diesen Nächten, den unwirklichen und unverzeihlichen.

Und er? Ihr Puls rast, in ihren Venen tobt ein Sturm und das Herz dröhnt viel zu laut in ihren Ohren.

Wie kann er schlafen? Friedlich, unschuldig? Spürt er denn nicht die Gefahr? Ihr Tier reißt an den Ketten, es brüllt, tobt. Seine Zähne will es in sein Fleisch schlagen, seinen Nacken, und Hals, eine flammende Spur, Zähne in seine Lippen bohren, ihn verschlingen, ihn sich einverleiben, sie ist Penthesilea, wütend, rasend, besinnungslos von Sinnen.

Die Anspannung treibt ihr Schweißperlen auf die Stirn.

Lässt sie es frei? Lässt sie …?

Nein.   Das Tier fletscht die Zähne.  Heute nicht, noch nicht.

Stattdessen streift ein Finger seinen bebenden Mund, verharrt kurz in der Schwebe und senkt sich zitternd auf diesen Abgrund, das dunkle, lockende Geheimnis, seines Mundwinkels.

Und wenn er jetzt erwacht, wird er nicht wissen, noch ahnen, welche Anstrengung es sie kostete.

Anna

mohn2

sie war immer da. In meiner Erinnerung, war sie immer schon da, wie sie es später auch zu tun pflegte. Sie, eine Konstante.

Oft sagte sie, die 13, die 13 hat mir nur Unglück gebracht. Ende Juli 1913 wurde sie geboren, ein denkbar schlechtes Datum. Zwei Weltkriege später, ein abwesender Mann und dann Witwe mit zwei Kindern, die Vertreibung aus der Heimat, nichts so schien es, konnte ihren Willen brechen, diesen unermüdlichen Willen und die Kraft, das Unerlässliche, das Unbequeme, das, was getan werden muss, zu tun. Ich habe sie nie klagen gehört.

Und wie liebte ich ihre Stimme, wenn sie vor meinem geistigen Auge wundersame Landschaften und Figuren entstehen ließ. Fantastische Märchen aus einer anderen Epoche.

Dass sie ihre Heimat verlassen musste, hat ihr das Herz gebrochen, aber nicht diesen, ihren unbezähmbaren Willen. Eine Löwin. Ich höre noch immer ihre Stimme, wenn sie von diesem Land erzählt, ihrer Stadt, ihrem geliebten Prag und dem heiligen Berg, die vielen verschlungenen, kleinen Gassen, die weiten Felder, ein Meer an Getreide, Klatschmohn und Kornblumen, und die tiefe Abgeschiedenheit der Wälder. Viele, sehr viele Jahre später durchstreife ich selbst diese Gassen, auf der Suche nach Antworten auf Fragen, die niemand stellte.

Hast du ihn geliebt oder bist du nur der Kinder wegen geblieben?

Bist du glücklich?

Wie würde dein Leben aussehen, könntest noch einmal wählen?

Heiraten? Nein, heiraten würde sie nicht wieder.

Unvorstellbar, dass auch sie einmal jung war, naiv, voller Träume, nächtelang wach lag, den Kopf voll phantastischer Ideen, wegen eines Jungen dem Leben abschwor und sich die Augen ausweinte. Unvorstellbar, dass sie nicht immer schon so weise, so fest im Leben verankert gewesen sein soll. Dass dieser Körper nicht schon immer diese Gestalt gehabt haben soll. Und doch habe ich Bilder gesehen, eine Schönheit, wenngleich etwas ernst und augenscheinlich viel zu jung, für das, was das Leben von ihr forderte.

Wenn wir als Kinder weinend nach einem Streit oder mit aufgeschlagenem Knien zu ihr liefen, dann war das nicht die schlanke, anmutige, wenn auch etwas kühl wirkende Blondine, sondern eine resolute Stimme, die für Gerechtigkeit sorgte, ein warmer und wunderbar weicher Körper, die Berührung ihrer Hände, die Handrücken rau und von Altersflecken übersät. Doch wenn diese Hände mit den von vielen Arbeiten schwieligen Fingern einen berührten, war es unmöglich, nicht die selbe Zuversicht zu spüren.

Sie hat mich nur einmal zum Weinen gebracht, in all den Jahren. Ich hielt ihre Hand, hörte ihren rasselnden Atem, der immer schwächer wurde und die Pausen zwischen den einzelnen Zügen immer länger. Das menschliche Herz ist ein so fragiles Organ, es bricht, sagt man, wenn uns jemand seine Liebe versagt, es rast, wenn der Eine/die Eine uns ein Lächeln schenkt, es klopft voll freudiger Erwartung … Sie hat mir das Herz gebrochen, als ihr eigenes zu schlagen aufhörte, eines Nachts Ende Februar 2013 – die verdammte 13 schon wieder! Der Tod hatte nichts Erhebendes an sich, in einem Moment war sie noch da, im anderen war sie fort und ich spürte, wie etwas in mir zerbrach.

Manches Mal stellte ich mir unsere Familie als einen Körper vor, viele gegensätzliche Teile, viele gegenläufige Wünsche und Impulse, aber sie war das Herz, sie war diejenige, die alles verband.

Sie war immer da. In meiner Erinnerung war sie immer schon da. Ein Leben vor ihr war nicht existent, ein Danach schlichtweg unvorstellbar. Ein Körper lebt nicht ohne Herz.

Als sie ging, wähnte ich mich vor einem tiefen Abgrund und ich fiel.