Sie saß auf der Liege, ihre Beine, welche den Boden nicht erreichten, hatte sie übereinander
geschlagen. Ihre Füße wippten leise im Takt. Nebenan spielte jemand Klavier.
Die einzelnen Sätze klangen mal kunstvoll und von leichter Hand gespielt, dann wieder holprig und
unbeholfen. Dazwischen blieb stets eine kurze Pause, ein leises Innehalten, gespanntes Lauschen, ein Zeichen? Ein Zeichen für ihn? Komm schon, mach, mach endlich Schluss! Komm, bitte, kommst du?
War es seine Freundin, Frau, Geliebte, die ihn von nebenan zu sich rief?
War dies ihr geheimes Zeichen? Sehnte sie seine Gegenwart so sehr herbei?
Das Spiel wurde eindringlicher und lauter. Es klang weniger nach eine Frage, als nach einer
Aufforderung.
Nur einmal jemanden so zu vermissen, dachte sie und war sich der Banalität dieses Gedankens voll
bewusst.
Schon beneidete sie die Andere und gab sich dem leisen Stich der Eifersucht mit schmerzvoller Lust
hin.
War sie blond? Bestimmt war sie blond und hochgewachsen und schlank. Eine kühle, klassische
Schönheit, ganz Frau, ganz Mensch, ganz Jäger und Beute vom perfekt frisierten Scheitel bis hin zu
den stets frisch lackierten Fußnägeln im Dita von Teese Rot.
Dieses dunkle Rot harmonierte ganz ausgezeichnet mit dem nicht besonders vollem, dafür hübsch
geschwungenem, kleinem Mund.
Am beeindruckendsten waren jedoch ihre Augen. Dieses Blau, das je nach Gefühlslage und Stimmung mal grau, dann wieder aquamarinblau schimmerte. Und manchmal, wenn sie schrie, die Fäuste ballte und ihre Augen sich zu wütenden Schlitzen verengten, schossen kleine, purpurne Blitze daraus hervor und trafen ihn mitten ins Herz. Dann kapitulierte er innerlich, jedes Mal, doch anmerken ließ er es sich nie.
Sie hieß Thea, eigentlich Thérèse, was sie beide viel schöner fanden, in den Momenten, wenn sie
ineinander verschlungen im Halbdunkel lagen, störte dieses distanzierte Thérèse jedoch jegliche
Intimität, so kam es zu einem geflüsterten Thea, das schon beim stumm gehauchten Konsonanten im
Keim erstickt wurde, wenn sich ihre Lippen suchten und e und a einen süßen Tod starben.
Auf seinem Schreibtisch türmten sich die Papierberge in akrobatische Höhen und trotzten jedem Gesetz der Schwerkraft. Der PC hielt wie ein strenger General fest und unbeweglich seine Position bei, daneben neigte eine Zimmerpflanze ihre nicht mehr ganz grünen Äste ergeben zu Boden.
Inmitten des Chaos plante eine tapfere Schar kleiner Figuren die Flucht von einer Ecke zum
gegenüberliegendem Ende des Schreibtisches. Angeführt wurde sie von einem nicht mehr ganz
taufrischem Pluto, der jedes Mal vor Begeisterung zu Quietschen begann, wenn man ihn aufhob und
drückte.
Snoopy im Arztkittel samt Stethoskop war sich der Ernst der Lage dagegen vollauf bewusst und trug
eine routinierte, leicht überhebliche Miene zur Schau. Es war nicht sein erster Ausbruch.
Einmal wäre ihm die Flucht fast gelungen. Er hatte lediglich die Aufmerksamkeit eines Kleinkindes auf sich ziehen müssen. Kaum hatte es ihn entdeckt, griff es schon mit seinen klebrigen, kleinen Fingern nach ihm. Doch statt in den Untiefen irgendeiner Hosentasche zu landen wie er es geplant hatte, steuerte die Faust, die ihn erbarmungslos unklammert hielt direkt auf den weit geöffneten, feucht glänzenden Abgrund zu.
Dahin waren seine Pläne, seine Träume von fremden Ländern, großen Abenteuern, schönen Mädchen.
Keine Lieder würde man ihm zu Ehren singen. Sein jugendlicher Leichtsinn, sein Heldenmut, sein
übergroßer Lebenshunger, all dies fand ein jähes Ende.
Er würde einen einsamen, sinnlosen Tod sterben, auf der Flucht vom Feind entdeckt, gemordet! Das
Ende in einer Futterluke.
Er schaute dem Unausweichlichen ins Angesicht, salutierte wie es sich für einen kleinen, tapferen
Soldaten gehörte und ergab sich in sein Schicksal.
Virenverseuchter Kinderatem umspülte seine feine Nase, schon glaubte er, scharfe Zähne sich in
seinen Körper graben zu fühlen, als der donnernde Befehl des in Unruhe geratenen Fleischberges neben seinem Beinahe-Mörder die Faust in der Luft erstarren ließ.
„TU DAS WIEDER HINSTELLEN, JEREMY-DAMON, SONST WIRD DIE MAMA SEHR BÖSE!“
Ein feiner Speichelregen durchnässte den kleinen Helden, doch das Wunder geschah.
Der klebrige Griff lockerte sich augenblicklich und Snoopy glitt aus der feucht-heißen Beengung und
landete sicher auf dem Tisch, wo er sich sogleich duckte und aus der Gefahrenzone begab, um in den
Untiefen des Dschungels (Zimmerpflanze) unterzutauchen.
Das Klavierspiel brach abrupt ab.
Ihre Lippen verzogen sich zu einem kleinem Lächeln, das den Triumph nur mühsam zurückhielt.
Du wirst dich noch etwas gedulden müssen!
Sein T-shirt spannte ein wenig um seinen Oberkörper und ließ den Blick frei auf zwei muskulöse
Oberarme.
Diese Arme waren leicht gebräunt, von einer feinen Spur dunkler Haare überzogen und sahen so
gesund und kräftig, so einladend appetitlich aus, dass sie augenblicklich Lust dazu verspürte, ihre
Zähne darin zu vergraben.
Er blätterte konzentriert in dem Ausweis, den sie ihm mitgebracht hatte und so entging ihm das
belustigte Funkeln in ihren Augen.
Draußen fiel der Schnee in dichten, fedrig-flauschig anmutenden Flocken. Es hatte etwas verstörend
Hypnotisches an sich, in das reine Weiß des fallenden Schnees zu blicken. Schaute man lange genug
hin, verschwamm das Bild vor den Augen, die Flocken verschmolzen zu einer einzigen weißen Fläche und hörten auf zu fallen.
Noch hatten sie beide kein Wort gewechselt, kurz überlegte sie, ob sie einfach aufstehen, ihm den Pass entreißen, ihre Jacke, die Tasche nehmen und gehen sollte. Nicht aus irgendeinem bestimmten Grunde, sondern einfach der Theatralik wegen und viel wichtiger, weil sie es konnte!
Ja, noch nie war sie sich einer Erkenntnis so bewusst gewesen, wie dieser einfachen, kleinen, simplen Wahrheit: ob sie ging oder blieb, es lag in ihrer Macht.
Er hob den Blick und schaute sie über den Rand seiner Brille hinweg an, in seinem linken Ohr blitzte
ein kleiner Ring auf.
In diesem Moment fiel ihre Entscheidung
Nachts sind Städte nichts weiter als ein Sammelort menschlicher Höhlen. Leiber drängen sich dicht an dicht, über-, unter-, neben und ineinander, Tür an Tür hört man sie stöhnen, flüstern, manchmal lachen und weinen. Das Gehörte lässt viel Raum für Spekulation und manchmal hütet man die Geheimnisse des Nachbarn, als wären es die eigenen.
Jemand hatte ihr mal erzählt, dass in Nächten, in denen die Städte völlig ausgestorben schienen, weil
Kälte und Sehnsucht die Menschentiere zueinander in ihre Höhlen trieb, die Puppen in den
Schaufenstern zum Leben erwachten.
Zuerst blinzelten sie mit den Augen, klimperten probeweise mit den Wimpern, prüfend, ob sie das
Flirten immer noch drauf hatten. Dann wurden die Lippen gespitzt, neckisch geschürzt und einander mit blitzenden Zähnen begrüßt.
Wenn sie ihre vom stundenlangen Stillstehen steif gewordenen Gelenke bewegten, ging ein Knacken durch den ganzen Puppenkörper. Vorsichtig stiegen sie von ihrem Podest, übten zaghaft die ersten Schritte bis eine von ihnen der Übermut packte und sie mit einem kraftvollen Schwung die ihr am
nächsten stehende Verwandte an den Händen fasste und in einem ausgelassenen Tanz im Kreis
herumwirbelte.
Soviel Übermut war natürlich ansteckend und in Windeseile verwandelten sich ganze Kaufhäuser in
rauschende Ballsäle.
Später durchstreiften sie die verschiedenen Stockwerke, setzten sich verrückte, alberne und hässliche Hüte auf. Zogen Kleider an, drehten und wendeten sich vor Spiegeln und versuchten sich in draufgängerischen Posen.
Kurz bevor die Sonne über den Horizont wanderte und ihre ersten Strahlen den neuen Morgen
begrüßten, fassten die Puppen sich an den Händen, halfen einander auf die Emporen, rückten schnell verrutschte Kleidungsstücke zurecht, verabredeten sich zum nächsten Fest und erstarrten gleichsam mit den über ihren Gesichtern tanzenden Strahlen wieder zur Leblosigkeit.
Als Kind hatte die Vorstellung von einem geheimem Doppelleben der Puppen sie begeistert und auch
heute überraschte sie sich manchmal dabei, wie sie ruckartig über die Schulter blickte, weil sie glaubte, eine Bewegung in ihrem Rücken gespürt zu haben. Wenn sie dann in das verdächtig ausdruckslose Gesicht der Puppe blickte, konnte sie nicht umhin zu glauben, diese habe ihr gerade verschwörerisch – das bleibt unter uns – zugeblinzelt.
Wer wusste schon, was die Puppen trieben, wenn gerade keiner hinsah?
Wieder saß sie auf der Liege, ihre Füße wippten ohne ein Hindernis ungebremst und frei im Raum.
Diesmal spielte niemand Klavier.
Auf der Fensterbank stand ein plüsch-weißes Schwein und starrte ganz aufmerksamer Wachhund aus dem Fenster, beäugte misstrauisch die vorübergehenden Passanten und grunzte hin und wieder
warnend, wenn ihm jemand verdächtig erschien – was häufig der Fall war, Verdächtige gab es in dieser Gegend viele.
Manchmal konnte es vorkommen, dass das Schwein vor lauter Übermut von der Fensterbank plumpste und in einen wahren Grunzrausch geriet. Dann gab es kein Halten mehr, es rotierte auf seinen Rücken, manchmal auch auf den pummeligen Füßen – je nachdem, mit was es zuerst aufkam – lautstark grunzend und schnaubend um die eigene Achse.
Diese Art von Rausch konnte gut und gerne mehrere Stunden, im schlimmsten Fall sogar Tage
andauern!
Glücklicherweise hegte das Schwein jedoch eine ausgesprochene Schwäche für Eukalyptus Bonbons.
Das war ihm nicht verborgen geblieben und so sorgte er dafür, dass stets eine gut gefüllte Schale mit
eben diesen Bonbons bereit stand, für alle Fälle.
War es mal wieder so weit, griff er beherzt in die Schale, fischte ein oder mehrere Eukalyptus Bonbons heraus, wickelte sie gekonnt aus dem Papier und beförderte sie mit einer routiniert-schwungvollen Bewegung direkt in die weit aufgerissene Schnauze des Schweins. Mittlerweile war ihm diese Bewegung so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er sogar mit geschlossenen Augen sein Ziel nicht verfehlte!
Augenblicklich verstummte das ohrenbetäubende Grunzen und ging in ein genüssliches Schmatzen
über.
Derart beruhigt, brauchte man das Schwein nur noch zurück auf die Fensterbank stellen, wo es sofort seine Tätigkeit als Wachhundschwein wieder aufnahm, als sei überhaupt nichts geschehen. Seine pechschwarz funkelnden Augen starrten konzentriert durch die Scheibe. Hin und wieder grunzte und schmatzte es leise vor sich hin, nur so zum Vergnügen.
Die Nadel bahnte sich mühelos ihren Weg durch das Hindernis, welches keines war, viel zu bereitwillig gewährte es dem Fremdkörper Einlass.
Der Schmerz war nicht der Rede wert, wohl aber das warme Gefühl auf der Haut rund um den Einstich und seine Stimme. Dieser vibrierende Zwischenton, der gleich etwas Leiblichem über sie hinweg rollte und ihre Ohren wie die eines Hundes zucken ließ.
Die Vokale klangen voller, die Konsonanten tanzten im Bass Bariton. Streckte sie die Hände danach
aus, kitzelten die Vibranten lachend und wirbelnd ihre Fingerspitzen, umkreisten sie wie exotische
Vögel, lockten und lösten sich gleich darauf in Luft auf. Erhaschen konnte sie nie einen.
Wenn man sie fragte, warum sie all diese Strapazen – mal abgesehen von den Kosten! – auf sich nahm, antwortete sie nur mit einem leicht hintergründigem Lächeln.
Warum? Darum! Weshalb? Deshalb! Wieso? Dieso, nein das gab es leider nicht. Die Antwort blieb
trotzdem die Gleiche.
Es gab keine Gründe, wenn nicht ihre pure Existenz Grund genug war. Sie konnte keine Gründe
anführen, wenn sie nicht gleichzeitig alle, auch die banalsten gelten ließ.
Sagte man, weil das Klima dort anders ist, weil die Luft schwerer, die Menschen lauter, das Glück
diffiziler und die Liebe konfuser ist, blieb es sich doch vollkommen gleich.
Warum?
Nicht wegen eines Landes, einer Mutter oder Vater wegen, die einem fremd waren, noch irgendwelcher
geborgten Erinnerungen wegen.
Sicher, ein wenig Sehnsucht, ein Hauch Melancholie und ja, auch eine Spur Sentimentalität spielten
ebenfalls eine Rolle.
Doch letztlich waren es die Träume, die einem im Schwebezustand zwischen nicht mehr schlafend und noch nicht ganz wach bannten. So schrecklich real und surrealistisch zugleich den Verstand mit Bildern fütterten und die Glieder bleischwer werden ließ. Das waren Momente, wenn sie mit verkrampfter Körperhaltung erwachte und auf ihren Lippen ein salziger Nachgeschmack blieb.
Warum?
Einzig um ihrer selbst willen. Weil ich bin, sagte sie leichthin. Ich bin. Dem war nichts mehr
hinzuzufügen.
Im Winter war die Entscheidung gefallen. Im Frühling, wenn jedes neue Leben sich regte, sollte die
Reise beginnen.
Vielleicht würde sie ihm schreiben. Nein, ganz bestimmt würde sie ihm schreiben.
Wenn sie dann auf irgendeiner Treppe saß, die Füße ausgestreckt, die Augen geschlossen und das
Gesicht in die warme Mittagssonne hielt, würde sie an ihm denken.
Dann würde sie ihm sagen:
Am meisten werde ich den Sommer vermissen. Das sanfte Brennen der Sonnenstrahlen, das
Nachglühen in der Nacht und das seidige Gefühl von Farbe auf der Haut.
Sie würde es nicht schreiben, aber er würde es trotzdem wissen, sie war glücklich.
Und Snoopy saß neben ihr.
Sie hatte ihn bei ihrem letzten Besuch mitgenommen, weil sie die großen Hundeaugen nicht vergessen konnte. Weil sie hinter all der Arroganz und der zur Schau gestellten Überheblichkeit auch eine Spur Traurigkeit entdeckt hatte, eine Sehnsucht, die sie wiedererkannte.
Sie hatte ihn behutsam in die Hand genommen und ihm ein Versprechen gegeben.
Sie nahm ihm mit auf diese Reise, weil man bei so einem Unternehmen einen guten Freund an seiner Seite brauchte.
Er solle nicht böse auf sie sein.
Sie würde ihm von den Orten schreiben, die sie besucht hatten, den Menschen, denen sie unterwegs
begegnet waren. Sie würde die schönen, die lauten, die leisen und die wahren Momente schildern, sie würde ihm jede Einzelheit erzählen. Dann bräuchte er nur die Augen zu schließen und würde sie sehen.
Ihr Schlusswort war leise und voller Hoffnung:
Wünschen Sie mir Glück ohne Punkt, Ausrufe- oder Fragezeichen.
Wenn sie ihm also einen Brief schrieb, würde sie so beginnen:
Sie saß auf der Liege, ihre Beine, welche den Boden nicht erreichten, hatte sie übereinander
geschlagen. Ihre Füße wippten leise im Takt. Nebenan spielte jemand Klavier